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Karwendel-Monographie
Uli Schöppler
Erste Begegnung mit den Wänden von Laliders
Die erste Bergfahrt ins Karwendel unternahm ich mit meinem Vater im
So mmer 1965. Ich war zehn Jahre alt und wanderte mit ihm vo m Großen
Ahornboden über das Hohljoch zur Falkenhütte. Es war ein strahlender Tag,
und auf den Berg wegen herrschte Hochbetrieb. Im Süden des von Weidevieh
bevölkerten Talkessels zog eine ungeheuere Bastion aus himmelwärts streben-
den Pfeilern und abweisenden Wänden unseren Blick sofort in ihren Bann. Wir
machten uns auf. Der einstündige Marsch über die Osthänge zum Hohljoch
hinauf wurde trotz der kurzen Waldabschnitte zu einer schweißtreibenden An-
gelegenheit. Oben auf dem Sattel ging zum Glück ein leichter Wind. Er vertrieb
die lästigen Fliegen und die ärgste Hitze.
Über uns erhoben sich die riesigen Wände von Laliders in monotonem
Grau. Hie und da unterbrach ein gelblicher Streifen oder ein ockerfarbenes
Band die einförmige Strenge der düsteren Felslandschaft. Aus einer Schlucht
mit Altschneeresten polterten Steine herunter. Als ich an den Wänden entlang
blickte und dann mit weit nach hinten gelegtem Kopf den zackigen Kranz der
Gipfel darüber ausmachte, wurde mir die Größe und Weite dieses steinernen
Amphitheaters bewusst, eine Art von Erhabenheit, als bestünde alles seit un-
vordenklicher Zeit. Auch gefiel mir das Karge, das Urweltliche, die Öde der
Geröllfelder am Fuße der Wand.
Wir gingen, um zur Falkenhütte zu gelangen, unter den Wänden von Lali-
ders zum Spielissjoch hinüber. Mit jedem Schritt in der prallen Sonne nahm
mein anfangs so lebhaftes Interesse an der Wand ab. Ich träumte von der Fal-
kenhütte und einem kühlen Getränk. Da ereignete es sich, dass ich hoch oben
im lotrechten Gemäuer zwei winzige Gestalten erspähte, eine Seilschaft in der
Nordwand der Laliderer Spitze. Der eine trug einen roten Helm und bewegte
sich nicht von der Stelle. Den anderen konnte ich nur undeutlich erkennen. Mit
tastenden Bewegungen kletterte er in einer Verschneidung höher. Plötzlich
löste sich unter ihm ein großer Stein aus der Wand und stürzte in freiem Fall
und mit heftigem Pfeifgeräusch tiefer. Mit hellem und hartem Schlag zerbarst
er im kantigen Geröll. Ich beobachtete, wie die Bewegungen des Voransteigen-
den stockten. Er verharrte, schien sich zu sammeln. Dann kletterte er in der
Verschneidung weiter, langsam und Stück für Stück.